Urteil des BAG vom 18.09.2003 – 2 AZR 330/02
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 18.09.2003, 2 AZR 330/02
Kündigungsfrist und Betriebsübergang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 20. März 2002 - 5 Sa 3/02 - aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 29. November 2001 - 28 Ca 364/01 - wird zurückgewiesen.
Die Widerklage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Dauer der Kündigungsfrist und davon abhängiger Ansprüche des Klägers auf Arbeitsentgelt.
Der am 11. Dezember 1940 geborene Kläger war seit dem 1. April 1976 bei der Firma V. GmbH in deren Betrieb in H. beschäftigt. Am 1. Juli 1999 wurde über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter beschloss zunächst die Stilllegung des gesamten Geschäftsbetriebs. Er kündigte die Arbeitsverhältnisse sämtlicher Arbeitnehmer zum 31. Oktober 1999. Der Kläger erhob gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses keine Klage.
Am 29. Oktober 1999 erwarb die Firma A. mbH das gesamte Anlage- und Vorratsvermögen der Schuldnerin. Von ihr erwarb die Firma AS GmbH, die am 1. Dezember 1999 in die Beklagte umfirmierte, unter anderen den Betrieb H., den sie fortführte. Der Kläger wurde nahtlos weiterbeschäftigt. Mit den Beschäftigten wurden neue Arbeitsverträge abgeschlossen. Nach dem Arbeitsvertrag des Klägers vom 1. November 1999 "beginnt das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Angestellten am 1. November 1999." Der Kläger erhielt zuletzt ein monatliches Gehalt von 9.250,00 DM brutto, eine vermögenswirksame Leistung von 46,00 DM monatlich und einen Sachbezug im Wert von 516,00 DM.
Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 17. Mai 2001 das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 30. Juni 2001 wegen Stilllegung des H. Betriebes. In der Zeit von Juli bis Oktober 2001 erhielt der Kläger von der Bundesanstalt für Arbeit ein Arbeitslosengeld in Höhe von 62,64 DM täglich. Der Kläger hat mit Schreiben vom 18. Juli 2001 seine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist am 31. Dezember 2001 geltend gemacht. Mit seiner am 14. September 2001 erhobenen Klage hat er die Feststellung des Fortbestandes seines Arbeitsverhältnisses bis zum 31. Dezember 2001 sowie die Zahlung des Arbeitsentgelts für die Monate Juli bis Oktober 2001 beansprucht. Er hat die Ansicht vertreten, auf Grund seiner über 20 Jahre durchgehenden Beschäftigung im H. Betrieb der Beklagten betrage seine gesetzliche Kündigungsfrist sieben Monate zum Monatsende.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 17. Mai 2001 nicht am 30. Juni 2001 beendet worden ist, sondern bis zum 31. Dezember 2001 fortbestanden hat,
2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 39.248,00 brutto nebst 5 % Punkte über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15. November 2001 abzüglich Arbeitslosengeld in Höhe von DM 7.704,72 zu zahlen.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags darauf verwiesen, die vor dem 1. November 1999 liegenden Beschäftigungszeiten seien für die Berechnung der Kündigungsfrist unbeachtlich. Das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Schuldnerin sei am 31. Oktober 1999 rechtskräftig beendet worden. Sie habe die Arbeitsverhältnisse von der damaligen V. GmbH nicht übernommen. Die Betriebszugehörigkeitszeiten seien nicht zusammenzurechnen, da die Arbeitsvertragsparteien der beiden Arbeitsverhältnisse nicht identisch seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf Grund der erstinstanzlichen Verurteilung hat die Beklagte an den Kläger am 18. Januar 2002 16.356,86 Euro gezahlt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Klage abgewiesen sowie auf die Widerklage der Beklagten hin den Kläger zur Rückzahlung der 16.356,86 Euro verurteilt. Mit der Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung und die Abweisung der Widerklage.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist abzuändern und die Berufung der Beklagten zurück- und die Widerklage abzuweisen.
A. Das Landesarbeitsgericht hat im Wesentlichen angenommen, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei unter Einhaltung der Frist des § 622 Abs. 1 BGB rechtswirksam zum 31. Oktober 1999 beendet worden. Eine längere Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 BGB sei nicht einzuhalten gewesen. Die vor dem 1. November 1999 liegenden Beschäftigungszeiten des Klägers blieben bei der Berechnung der Kündigungsfrist außer Betracht. § 622 Abs. 2 BGB setze ein ununterbrochenes Arbeitsverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien voraus. Das Arbeitsverhältnis des Klägers sei aber vom Insolvenzverwalter rechtswirksam gekündigt worden. Der Betriebsübergang habe das wirksam gekündigte Arbeitsverhältnis des Klägers nicht erfasst, es habe im Zeitpunkt des Betriebsübergangs nicht mehr bestanden. Eine Zusammenrechnung beider Arbeitsverhältnisse scheide aus. Bei dem Arbeitsverhältnis des Klägers mit seiner ehemaligen Arbeitgeberin und dem jetzigen Arbeitsverhältnis mit der Beklagten handele es sich nicht um dasselbe Arbeitsverhältnis iSv. § 622 Abs. 2 BGB. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses gegen die Beklagte gehabt. Jedenfalls habe er einen möglichen Fortsetzungsanspruch nicht rechtzeitig geltend gemacht. Da das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der zutreffenden Kündigungsfrist gekündigt worden sei, habe er auch keinen Anspruch auf Vergütungszahlung für den Zeitraum nach dem 30. Juni 2001. Dementsprechend sei der Rückzahlungsanspruch der Beklagten begründet.
B. Dem folgt der Senat weder im Ergebnis noch in der Begründung.
I. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts und der Beklagten berechnet sich die Kündigungsfrist des Klägers nach § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB. Das Arbeitsverhältnis des Klägers hat in demselben Betrieb ohne Unterbrechung länger als 20 Jahre bestanden. Dabei ist die bei der Schuldnerin im Zeitraum 1. April 1976 bis 31. Oktober 1999 zurückgelegte Beschäftigungszeit bei der Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfrist zu berücksichtigen. Die Kündigung der Beklagten vom 17. Mai 2001 konnte demnach das Arbeitsverhältnis des Klägers frühestens zum 31. Dezember 2001 beenden.
1. Nach § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB beträgt die Kündigungsfrist sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen 20 Jahre bestanden hat.
Dabei finden vorliegend auch die vom Kläger im Betrieb H. bei der Firma V. GmbH zurückgelegten Beschäftigungszeiten des Klägers vom 1. April 1976 bis zum 31. Oktober 1999 Berücksichtigung. Zwar hatte die - bestandskräftige - Kündigung des Insolvenzverwalters das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. Oktober 1999 rechtswirksam aufgelöst. Gleichwohl ist dadurch keine für die Berechnung der Beschäftigungsdauer im Rahmen der Kündigungsfrist rechtlich relevante Unterbrechung des Bestands des Arbeitsverhältnisses des Klägers in dem Betrieb eingetreten. Der Kläger ist nämlich in unmittelbarem Anschluss an die Kündigung und das Beendigungsdatum von der Beklagten als Inhaberin des H. Betriebes am 1. November 1999 nahtlos eingestellt und weiterbeschäftigt worden. Dementsprechend sind die beiden Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist zusammenzurechnen. Schon auf Grund der nahtlosen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses am bisherigen Arbeitsplatz des Klägers liegt ein hinreichend enger innerer Zusammenhang zwischen den beiden - rechtlich getrennten - Arbeitsverhältnissen vor (BAG 23. September 1976 - 2 AZR 309/75 - BAGE 28, 176, 181; 6. Dezember 1976 - 2 AZR 470/75 - BAGE 28, 252, 256; 20. August 1998 - 2 AZR 76/98 - AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 9 = EzA KSchG § 1 Nr. 49; - 2 AZR 83/98 - BAGE 89, 307; zuletzt 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 15 = EzA KSchG § 1 Nr. 55). Ein anderes Verständnis würde dem gesetzgeberischen Zweck der gesetzlichen Kündigungsfristen nicht gerecht und einer nur rein begriffsjuristischen Betrachtung folgen (vgl. insbesondere Senat 23. September 1976 aaO). Es entspricht deshalb der ständigen Rechtsprechung des Senats zur Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG, wegen des sozialen Schutzzwecks des KSchG Zeiten eines früheren Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen, wenn ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den Arbeitsverhältnissen besteht. Diese Überlegung gilt auch für die verlängerten gesetzlichen Kündigungsfristen. Mit zunehmender Betriebszugehörigkeit wird der Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses erhöht und einer entsprechenden sozialen Schutzfunktion Genüge getan. Im Interesse der Einheit der Rechtsordnung ist es deshalb geboten, den Einfluss von rechtlichen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses sowohl bei der gesetzlichen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG als auch bei der Berechnung der Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 BGB gleich zu behandeln (vgl. insbesondere Senat 6. Dezember 1976 - 2 AZR 470/75 - BAGE 28, 252, 257; APS-Linck § 622 BGB Rn. 58; KR-Spilger 6. Aufl. § 622 BGB Rn. 58).
2. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht einer Berücksichtigung der früheren Beschäftigungszeiten des Klägers nicht entgegen, dass bei seiner früheren Tätigkeit im H. Betrieb nicht die Beklagte, sondern die Schuldnerin Arbeitgeberin bzw. Vertragspartnerin des Klägers gewesen ist.
a) Der Kläger war - selbst wenn man eine rechtliche Unterbrechung für eine "logische Sekunde" annimmt - stets in demselben Betrieb in H. beschäftigt.
b) Der Betriebsübergang von der Schuldnerin bzw. dem Insolvenzverwalter auf die Beklagte per 1. November 2001 ist unstreitig. Von einer Identität des H. Betriebes vor und nach dem 1. November 1999 kann deshalb ausgegangen werden. Es kann deshalb keine Rolle spielen, ob zwischenzeitlich der Inhaber des Betriebes gewechselt hat. Die Beschäftigungszeiten sind bei einem Betriebsübergang zusammenzurechnen, wenn die Identität des Betriebes gewahrt ist (Senat 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 15 = EzA KSchG § 1 Nr. 55).
c) Nur ein solches Verständnis entspricht - worauf der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - aaO hingewiesen hat - dem Schutzzweck des § 613a Abs. 1 BGB und der Richtlinie 77/187 EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen bzw. deren Ergänzung durch die Richtlinie EG 98/50. Danach soll dem Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Inhabers eines Betriebes oder Unternehmens die Wahrung seiner Rechte gewährleistet bleiben (zum Sinn und Zweck des § 613a BGB: BAG 12. Mai 1992 - 3 AZR 247/91 - BAGE 70, 209; KR-Pfeiffer 6. Aufl. § 613a BGB Rn. 3; zum Ziel der Richtlinie EuGH: 10. Februar 1998 - 324/86 - Slg. 1988, 739, 754 - "Daddy`s Dance Hall"; 15. Juni 1998 - 101/87 - Slg. 1988, 3057, 3076 "Bork International"; 14. September 2000 - Rs. C-343/98 - EuGHE I 2000, 6659 "Collino, Chiappero"). Die gesetzlichen Regelungen gewähren einen Inhaltsschutz und wollen insbesondere verhindern, dass eine Betriebsveräußerung zum Anlass eines Abbaus der erworbenen Besitzstände der Arbeitnehmer genommen wird (BAG 12. Mai 1992 - 3 AZR 247/91 - BAGE 70, 209; 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - aaO). Deshalb spielt es auch keine Rolle, ob der Kläger bereits vom Insolvenzverwalter eine Abfindung erhalten hat. Die zwingende Regelung des § 613a BGB darf beispielsweise nicht durch eine Kündigung und nachfolgende Wiedereinstellung umgangen werden (BAG 20. Juli 1982 - 3 AZR 261/80 - BAGE 39, 208; 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - aaO). Der Betriebsübernehmer ist auf Grund des Betriebsübergangs so zu behandeln, als würden die arbeitsrechtlichen Beziehungen des Arbeitnehmers zum Betriebsveräußerer weiterhin bestehen. Dementsprechend sind bei einem Betriebsinhaberwechsel die Beschäftigungszeiten zusammenzurechnen (HK-KSchG/Dorndorf § 1 Rn. 78 ff.; Kittner/Däubler/Zwanziger KSchR 5. Aufl. § 1 KSchG Rn. 27; ErfK/Ascheid 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 89; APS/Dörner § 1 KSchG Rn. 46; KR-Etzel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 119; KR-Pfeiffer 6. Aufl. § 613a BGB Rn. 68 f.; Senat 27. Juni 2002 - 2 AZR 270/01 - aaO).
Da sich für den Betriebsveräußerer eine vergleichbar unerhebliche - rechtliche - Unterbrechung bei der Berechnung der Kündigungsfrist vorliegend nicht auswirken würde, kann sich unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der gesetzlichen Regelung für einen Betriebserwerber - und damit für die Beklagte - nichts anderes ergeben. Sie muss sich so behandeln lassen, als hätte die Schuldnerin bzw. der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis selbst nahtlos fortgesetzt.
II. Da die Kündigung der Beklagten das Arbeitsverhältnis nicht zum 30. Juni 2001 rechtswirksam beendet, sondern es darüber hinaus fortbestanden hat, steht dem Kläger der begehrte Verzugslohnanspruch für den Zeitraum Juli bis Oktober 2001 in der nicht streitigen Höhe nebst anteiliger Zinsen gemäß § 615 Satz 1 BGB zu. Der von der Beklagten geltend gemachte Rückzahlungsanspruch nach § 717 Abs. 2 ZPO ist hingegen unbegründet.
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.
Rost Bröhl Eylert
Fischer Rosendahl
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